Deutsch-Tschechische
und Deutsch-Slowakische
Historikerkommission

Die Deutsch-Tschechische und Deutsch-Slowakische Historikerkommission trauert um Jan Křen

 

Mit Bedauern hat die Deutsch-Tschechische und Deutsch-Slowakische Historikerkommission vom Tode ihres Gründungsvorsitzenden Prof. Dr. Jan Křen erfahren, der vor Vollendung seines 90. Lebensjahres am 7. April 2020 in Prag verstorben ist.

Jan Křen (22.8.1930 – 7.4.2020) war bereits seit den 1960er Jahren ein Historiker mit internationalem Renommee und besonders nach 1989 – auch viele Jahre über seine Emeritierung hinaus – ein bei Studenten sehr beliebter Universitätslehrer. Als homo politicus war Křen in der Zeit des Prager Frühlings ebenso aktiv wie später im Dissent, wo er zu den Gründungsmitgliedern der Charta 77 zählte und Mitte der 1980er Jahre die Untergrund-Universität mit ins Leben rief. Die schwierigen Zeiten der sogenannten Normalisierung überstand er als Erdarbeiter bei den staatlichen Wasserbetrieben. Auch unter diesen Bedingungen zeigte er sich in der Lage, wissenschaftlich zu arbeiten und Werke von bleibendem Wert zu schreiben.

Nach der Samtenen Revolution ging er letztlich nicht in die große Politik, sondern widmete sich vielmehr der Aufgabe, den deutsch-tschechischen Dialog auf mehreren Ebenen aktiv zu eröffnen. Zusammen mit einer partnerschaftlich verbundenen Gruppe führender deutscher Historiker nahm er den Auftrag der Außenminister Dienstbier und Genscher an, eine gemeinsame Historikerkommission zu gründen, die die „Steine“ aus dem Weg der nachbarschaftlichen Zusammenarbeit und Verständigung räumen sollte, und zwar sowohl im Hinblick auf die gemeinsame schmerzhafte Vergangenheit als auch in Bezug auf die Gegenwart und Zukunft. Gleichzeitig hat sich Křen an der Bildung des Deutsch-Tschechischen Gesprächsforums beteiligt. Er wusste sehr gut, wie wichtig eine solche akademische „soft diplomacy“ ist, und setzte sich nach Kräften für ihre Etablierung ein. Augenfällig zeigte sich dies bei der Konzipierung der Deutsch-Tschechischen Erklärung über die gegenseitigen Beziehungen und deren Zukunft. Jan Křen gehörte zu dem von Václav Havel berufenen Team, das unter seiner Federführung die Grundlage für die Erklärung bereitete und in der Folge dabei half, die Formulierungen dieses wichtigen, im Jahre 1997 unterzeichneten und ratifizierten Dokuments zu präzisieren.

Mit Blick darauf, dass der freien Tschechoslowakei und seit dem Jahre 1993 der Tschechischen Republik eine junge Generation von Adepten der Diplomatie und weiterer Fächer fehlte, die mit der europäischen Thematik vertraut waren, gründete Jan Křen (erneut mit Unterstützung des Außenministeriums der Tschechischen Republik) im Jahre 1994 an der neu eingerichteten Fakultät für Sozialwissenschaften der Karlsuniversität einen auf Vergangenheit und Gegenwart ausgerichteten Lehrstuhl für Deutsche und Österreichische Studien. Diesen entwickelte er kurz darauf weiter in ein Institut für Internationale Studien, das in seinem Zugriff den Raum von Russland über Mittel- und Westeuropa bis zu den USA umfasst.
Bereits im Jahre 1997 jedoch übergab Jan Křen die Leitung des Instituts einer jüngeren Generation und konzentrierte sich auf das Großprojekt einer Geschichte Mitteleuropas im 19. und 20. Jahrhundert in einem breiten europäischen bzw. globalen Kontext. Das im wahrsten Sinne große Buch Dvě století střední Evropy [Zwei Jahrhunderte Mitteleuropas] fand nach seinem Erscheinen 2005 nicht nur in der tschechischen akademischen Sphäre wie auch der breiteren Gesellschaft ein breites Echo, sondern wurde auch in Polen wohlwollend begrüßt und gewürdigt. Aktuell wird das Werk ins Deutsche übersetzt und schließt so mit einem zeitlichen Bogen von zwanzig Jahren an den gewaltigen heimischen und internationalen Erfolg von Křens Buch Konfliktní společenství. Češi a Němci 1780–1918 [Die Konfliktgemeinschaft. Tschechen und Deutsche 1780–1918] an, das erstmals 1986 in Toronto erschienen war. In Zusammenhang mit der leider nicht realisierten polnischen Ausgabe der Zwei Jahrhunderte hat sich Křen überdies dazu entschieden, auch die nachrevolutionären Schicksale der mitteleuropäischen Gesellschaften zu erforschen. Als sein letztes großes Opus gelangte so im Jahr 2019 das Buch Čtvrt století střední Evropy [Ein Vierteljahrhundert Mitteleuropas] in die Hände der Leser.

Mit Jan Křen verliert die Deutsch-Tschechische Historikerkommission nicht nur einen Historiker und Diplomaten, dessen Charme, freundliches Entgegenkommen, Kommunikationsgeschick und von den Partnern respektierte Kompetenz es ermöglichten, Lösungen zu finden für eine ganze Reihe keineswegs leichter Probleme, sondern auch einen Mann, der für vielleicht tausende Studenten und zehntausende Leser in Tschechien wie im Ausland die Möglichkeit und den Willen verkörperte, eine konfliktreiche Vergangenheit von nationalen Stereotypen und Verkrampfungen zu befreien und sie zum Gegenstand eines übernational argumentierenden, aufgeschlossenen Gesprächs zu machen.

Jiří Pešek (Übersetzung: F. Hadler)

 

 

Martin Schulze Wessel, Erster Vorsitzender des Collegium Carolinum, Mitglied der deutschen Sektion der gemeinsamen Historikerkommission und lange Jahre deren Vorsitzender, hat in der Süddeutschen Zeitung vom 14. 4.2020 einen Nachruf verfasst.